Rehan Neziri

 

Seit dem Zeitpunkt der ersten Ausbreitung des Corona-Virus in den europäischen Staaten – zunächst in Italien und unmittelbar danach auch in der Schweiz – reagierten die Imame und die Moscheen mit Wachsamkeit und Ernsthaftigkeit auf dieses besondere Phänomen, das zudem von hoher Komplexität und von vielen Unklarheiten geprägt war.

Für sie stand die Realität des Virus und seiner raschen Verbreitung kaum je ernsthaft in Frage. Zweifel gab es eher in Bezug auf die Ursachen, die bis heute rätselhaft geblieben sind – nicht jedoch hinsichtlich der Tatsache, ob es sich hierbei um eine reale Erscheinung handelte. Der gesamte Fokus richtete sich vielmehr auf die Prävention, die Eindämmung und die Verhinderung der Ausbreitung dieser Pandemie, die den größten Teil der Welt erfasste und dabei weder Religion, Nation noch Kultur verschonte.

Eine große Rolle in diesem Zusammenhang spielten nicht nur die Weitsicht der Imame, der Vorstände der Moscheen sowie der islamischen Organisationen, sondern – vielleicht sogar die entscheidendste – der Staat selbst, genauer gesagt die Schweizer Regierung.

Zwar handelte diese zu Beginn eher zögerlich, indem sie auf die persönliche Verantwortung jedes einzelnen Bürgers setzte; später jedoch ergriff sie auch Maßnahmen, die für die hiesige Kultur und Lebensweise ungewöhnlich waren und von vielen als Einschränkung der persönlichen Freiheiten und Rechte sowie als übermäßige Präsenz oder Einmischung des Staates wahrgenommen wurden.

Durch ihre nahezu täglichen Stellungnahmen zur Entwicklung der Ereignisse gelang es der Regierung indes zunächst, den unkontrollierten Ansturm der Bürger auf die Märkte zu stoppen, indem sie versicherte, dass die Lebensmittelindustrie weder Verlangsamungen noch sonstige Einschränkungen erfahren werde und dass die in diesem Zusammenhang ausgelöste Panik unbegründet sei. Darüber hinaus konnte sie sich rechtzeitig als stabilisierender und orientierender Faktor in dieser Krise positionieren.

Die von der Schweizer Regierung auferlegten Einschränkungen waren in der Tat beschwerlich für Menschen, die in einer direkten Demokratie aufgewachsen sind, in der vieles in den Händen des Individuums, der Gemeinden und der Kantone liegt – und nur wenig in den Händen des Staates. Es handelte sich um eine nicht sehr erwünschte Wende, die die Regierung jedoch in angemessener Weise zu artikulieren vermochte: indem sie Zuversicht am Funktionieren des Systems verbreitete, den Zustand von der Normalität auf das Besondere und schließlich auf das Ausserordentliche anhob.

Es gelang ihr, das Vertrauen der Bürger in die Ernsthaftigkeit der Situation zu gewinnen – nicht allein durch die Bereitstellung von Milliarden Schweizer Franken zur Unterstützung der nationalen Wirtschaft, sondern auch durch die sichtbare Bekundung einer realen Besorgnis, ohne jedoch Panik zu verbreiten und ohne Raum zu lassen, dass die Situation von den Schienen der Wahrheit auf jene der verschwörungstheoretischen Zweifel abgleite.

Zu den konkreten Schritten – für uns hier von besonderer Bedeutung – gehörte auch die Frage der Einschränkungen in den Gotteshäusern aller Religionen. Was für alle Orte galt, an denen sich große Menschenmengen versammelten, fand ebenso Anwendung in unseren Moscheen.

Diese staatlichen Maßnahmen wurden – wenn auch mit Unbehagen und Betrübnis – von unseren Moscheen ohne Zögern und ohne Vorbehalte umgesetzt. Denn zu diesem Zeitpunkt bestand bereits ein umfassendes Vertrauen sowohl gegenüber der Regierung und den Gesundheitsbehörden als auch gegenüber den islamischen Organisationen auf kantonaler Ebene, wie DIGO, VIOZ, VAM u. a., sowie auf nationaler Ebene, wie DAIGS, FIDS u. a., die diese Maßnahmen in würdiger und verhältnismäßiger Weise artikulierten und den Bedingungen unserer Moscheen anpassten.

Ich betone erneut: Diese Zeit und diese Situation waren keineswegs einfach, sondern vielmehr von Herausforderungen, Unklarheiten, ständigen Zweifeln, Widersprüchen und Ablehnungen geprägt. In all diesen Punkten – insbesondere im Blick auf die muslimische Gemeinschaft – standen die Imame im Zentrum der Aufmerksamkeit: als die zentralen Akteure auf lokaler Ebene und als Förderer des gegenseitigen Verständnisses sowie als diejenigen, die Vertrauen in ihren Gemeinden zu vermitteln wussten.

Das Engagement der Moscheen – und insbesondere der Imame – selbstverständlich in Koordination mit den verschiedenen islamischen Organisationen des Landes, kann während des Pandemieverlaufs auf mehreren Ebenen betrachtet werden: auf der emotional-psychischen, der theologischen, der religiös-praktischen, der sozialen Ebene usw.

Auf der emotional-psychischen Ebene gelang es den Imamen, aus einer Situation der Angst, der Panik und der Unsicherheit – hervorgerufen durch die Unklarheit über die Gefährdungslage – eine Atmosphäre des Vertrauens zu schaffen, genährt durch die islamischen Glaubenslehren, sowie ein Klima der Solidarität und gegenseitigen Unterstützung.

Hier trat erneut das hoffnungs- und lebensstiftende Element der Religion hervor, das mit dem Glauben an den allmächtigen und allbarmherzigen Gott verbunden ist – als Gegenpol zu den pessimistischen und apokalyptischen Haltungen, die allenthalben verbreitet wurden.

Die Imame erläuterten rechtzeitig die Empfehlungen und Lehren Muhammads (s.a.w.s.) in Bezug auf den Ausbruch epidemischer Krankheiten, indem sie betonten, dass Muhammad (s.a.w.s.) schon damals über solche Fälle Bescheid wusste und deren Behandlung weder dem Zufall noch einem starren Determinismus überließ. Zugleich hoben sie auch die prophetischen Verheißungen hervor, die den geistigen Lohn für jene betreffen, die mit Glauben an Gott geduldig ausharren und die notwendigen Maßnahmen zur Verhinderung und Überwindung von Epidemien und Pandemien ergreifen. Geduld, Widerstandskraft und Standhaftigkeit angesichts solcher Herausforderungen werden im Islam dem höchstmöglichen Opfer gleichgesetzt.

Dabei darf auch der Einfluss nicht unerwähnt bleiben, den das zeitliche Zusammentreffen des Anstiegs der Infektionen und der Gefährdung durch das Virus mit dem Eintritt in die drei gesegneten Monate im Islam hatte. Wie üblich werden die Monate Raǧab und Šaʿbān zusammen mit dem Fastenmonat Ramaḍān in der islamischen Welt als untrennbar betrachtet, wenn es um die spirituelle Erhebung der Gläubigen geht. Gerade dieses zeitliche Zusammenfallen spielte für die muslimischen Gläubigen eine stark dämpfende Rolle in Bezug auf die Angst, Unsicherheit und Zweifel, die das Wesen des Menschseins berühren.

Auf der theologischen Ebene mussten sich unsere Imame zunächst mit der Frage der Deutung dieses Phänomens auseinandersetzen: Sollte es als Strafe und Fluch Gottes verstanden werden – oder nicht? Handelte es sich um eine Prüfung, oder vielmehr um eine Folge der falschen Lebensweise und des unkontrollierten Funktionierens des menschlichen Lebens auf dem Planeten Erde? Oder war es etwas ganz anderes …

Dank der Weitsicht der hier ansässigen Imame – genährt von Wissen, Kompetenz und Verantwortungsbewusstsein – konnten die meisten dieser Zweifel aus den Köpfen der hiesigen Gläubigen verdrängt werden. Die Situation wurde nun als ernsthaft eingestuft, jedoch ohne Panikmache, und es wurde betont, dass sie überwunden werden könne, wenn jeder Einzelne von uns mit der erforderlichen persönlichen und sozialen Verantwortung handle.

Hier sei auch die Verhinderung abweichender Tendenzen erwähnt, die eine falsche Richtung im Umgang mit und in der Überwindung dieser Pandemie einschlagen wollten. Gemeint sind bestimmte Personen – selbstverständlich von außerhalb der Schweiz, deren Botschaften jedoch rasch auch hierher gelangten, vor allem über soziale Netzwerke –, die „Volksheilmittel“ anpriesen, welche ihnen angeblich im Traum vom Propheten Muhammad (s.a.w.s.) gelehrt worden seien; oder die behaupteten, bestimmte Duʿās (Bittgebete), in einer speziellen Form oder einem besonderen Stil gesprochen, könnten die Pandemie gleichsam „wie mit einem Zauberstab“ vertreiben – sowie weitere Unsinnigkeiten im Namen der Religion.

Ein weiterer Punkt, den die Imame aufzugreifen hatten, war der Vorwurf, sie und die Moscheen hätten sich den staatlichen Präventionsmaßnahmen „unterworfen“ und sich damit „dem Staat“ oder gar „globalen Machenschaften“ gegenüber loyaler gezeigt als dem „Ratschluss Gottes“.

Darüber hinaus mussten sie sich auch mit der gegenteiligen Frage auseinandersetzen, nämlich: Wo ist Gott in dieser ganzen Krise? Warum hält Er sie nicht auf? Warum lässt Er sie überhaupt zu?! Schließlich war auch die Strömung zu thematisieren, die behauptete, diese Krise könne einzig und allein mit wissenschaftlichen Methoden überwunden werden und dass die Religion in dieser Hinsicht keinerlei Rolle zu spielen vermöge.

Unsere Imame mussten sich daher mit all diesen Fragen verantwortungsbewusst und ernsthaft auseinandersetzen – um keinerlei Raum für die Verbreitung von Aberglauben, falschen Überzeugungen, Abweichungen, Missverständnissen, Fehlinterpretationen und Missbräuchen der Religion zu lassen, einerseits, und um andererseits die positive Rolle und Funktion der Religion bei der Deutung und Bewältigung dieses Phänomens hervorzuheben.

Auf der religiös-praktischen Ebene mussten die Imame mit ihren Gemeinden daran arbeiten, den multidimensionalen Charakter des Konzepts von ʿIbāda, der gottesdienstlichen Handlungen, zu verdeutlichen und zu klären: dass diese nicht auf die Räumlichkeiten der Moscheen beschränkt sind; dass in Fällen von Notwendigkeit und Zwang Ausnahmen gelten; dass in besonderen Situationen wie dieser Pandemie die Gläubigen von bestimmten Pflichten – etwa dem Freitagsgebet – entbunden wurden oder alternative Möglichkeiten eröffnet waren, diese im familiären Kreis zu Hause zu verrichten; dass ungeachtet dessen der Erhalt des menschlichen Lebens Vorrang vor gemeinschaftlichen Gebeten in der Moschee hat; dass die Leere der Moscheen keineswegs den „Zorn“ der Moscheen über uns bedeutete, wie manche behaupteten. Mit anderen Worten: Die Imame erläuterten die Alternativen und Optionen der Religiosität und der praktischen Umsetzung religiöser Normen.

Eine neue Erfahrung für viele Imame war zudem die Verlagerung der Predigt und der religiösen Kommunikation von der realen in die virtuelle Welt. Nicht nur die Freitagspredigten, sodann auch jene im Ramadan, sondern auch der Religionsunterricht für Kinder und Erwachsene, das Rezitieren der muqābala (das melodische Lesen des edlen Qur’an), Kinderquizze, Interviews mit Persönlichkeiten aus dem religiösen Bereich und aus anderen Fachgebieten – all dies verlagerte sich ins Online-Format über das Internet.

Auf der sozialen Ebene haben die Moscheen – und vor allem die Imame – eine Rolle gespielt wie nie zuvor. Da es eine völlig neue Erfahrung war, dass die Moscheen für die gemeinschaftlichen Gebete geschlossen blieben, dass keine Predigten und Ansprachen direkt gehört werden konnten und dass man sich nicht mehrmals täglich in den Cafeterien oder in den anderen Räumen der Moschee begegnete, bemühten sich die Vorstände der Moscheen und der islamischen Organisationen, insbesondere die Imame, dieses soziale Vakuum durch andere Formen der Kommunikation zu füllen: durch Rundbriefe per Post mit Mitteilungen und Glückwünschen zu Ramaḍan und Ramadan-Fest, durch gelegentliche Telefonate mit den Mitgliedern der Gemeinde und durch das Interesse, ob sie – etwa aufgrund ihres Alters oder einer Krankheit – einen Bedarf hatten, den sie nicht selbst decken konnten. Auf diese Weise bildeten sie den lebendigen Kanal, der die sozialen Bindungen zwischen Vorstand, Imam und den Gemeindemitgliedern aufrechterhielt.

Ein sehr wichtiger Aspekt, der hier erwähnt werden muss, ist zudem das Engagement unserer Vorstände und Imame in sozialen und humanitären Aktivitäten, die von der Gesellschaft gefordert waren – konkret in den eigens eingerichteten Arbeitsgruppen der politischen Gemeinden zur Bewältigung der Pandemiekrise. In diesem Zusammenhang übernahmen Imame und einige Gemeindemitglieder Aufgaben wie den Einkauf von Lebensmitteln oder andere private Besorgungen für Familien oder Personen, die als besonders gefährdet für eine mögliche Ansteckung galten. Dieses soziale und humanitäre Engagement überschritt die religiösen und ethnischen Grenzen und brachte somit einen weiteren sehr bedeutsamen Aspekt des Islam zum Vorschein: die Wertschätzung des Menschseins – unabhängig von Religion, Sprache oder Kultur.

Ein weiterer bedeutsamer Aspekt in diesem Zusammenhang ist die Stärkung der familiären Bindungen. Obwohl zunächst die Befürchtung aufkam, dass in einer Situation, in der die Familienmitglieder über längere Zeit gemeinsam zu Hause bleiben mussten, Reibungen und familiäre Krisen entstehen könnten, zeigte sich dies bei den islamisch geprägten Familien nicht. Im Gegenteil – und glücklicherweise – gewannen die Familienbindungen an Wert, unter anderem auch durch das gemeinsam gelebte religiöse Leben in der Familie: die täglichen Gebete und die Tarāwīḥ-Gebete, das Lesen des Qur’an sowie das Anhören von Online-Vorträgen. All dies führte zu einer neuen religiösen und sozialen Erfahrung, die verdeutlichte, dass die Familie trotz allem ein großes Gewicht hat und eine wichtige psychologische, pädagogische, soziologische und religiöse Rolle spielt.

Abschließend lässt sich sagen, dass es in dieser schwierigen Zeit ein breites Spektrum an Handlungsfeldern für die Imame, die Moscheevorstände sowie die islamischen Organisationen gab. Heute, da die Moscheen wieder geöffnet sind und wir zurückblicken, erkennen wir, dass wir es gemeinsam – mit individueller und kollektiver Verantwortung – geschafft haben, einander wieder gesund und wohlbehalten zu begegnen.

Heute freuen wir uns gemeinsam darüber, die schwierigen und belastenden Situationen überwunden zu haben, und sind einander dankbar für die Ehre und den Respekt, den wir uns selbst und dem Anderen erwiesen haben – wer auch immer dieser Andere sei, Muslim oder Nichtmuslim, Albaner oder Angehöriger einer anderen Nationalität.

Wir als Muslime haben es in dieser Krisenzeit vermocht zu bezeugen, dass der islamische Glaube nicht nur aus Glaubensüberzeugungen und Ritualen besteht, sondern ebenso soziales, humanitäres, kulturelles und ökologisches Engagement umfasst. Wir haben gezeigt, dass wir – bevor wir Muslime sind – Menschen sind und dass wir dank der universalen Werte, die uns die islamische Religion lehrt, an der Seite eines jeden stehen. Diese Werte erheben uns auf die Ebene ernsthafter Völker, die das wirkliche und verantwortungsbewusste Leben auf dieser Erde gestalten.

So ergab sich dieser Anlass, in dem wir die vielen anderen Dimensionen der Religion im Verhältnis zum Leben des Menschen erlebten und sichtbar machten – sei es als Individuum, als Gemeinschaft, als Gesellschaft oder als gesamte Menschheitsfamilie auf Erden. Wir haben erneut verstanden, dass wir – trotz aller sprachlichen, ethnischen, religiösen und sonstigen Unterschiede – das Menschliche, die Heiligkeit des Lebens sowie die Würde und Integrität des Menschen als gemeinsamen Wert besitzen.

Dies wiederum, so glaube ich, bedeutet von nun an zugleich ein neues Paradigma – nicht nur theologischer, sondern auch gesamtgesellschaftlicher Natur: dass wir als Menschheitsfamilie gemeinsam in der Lage sind, nicht nur das Virus Covid-19 zu bewältigen, sondern auch viele andere „Viren“ menschlicher, ethischer, religiöser, ökonomischer und politischer Art.

Ja, wir schaffen es gemeinsam!

 

Kreuzlingen, 10.06.2020