Rehan Neziri

 

Infolge der Globalisierung und der Verbreitung materieller (im positiven wie im zwielichtigen Sinne) sowie technologischer Errungenschaften gibt es heute kaum noch junge Menschen, die das Internet und die sozialen Medien nicht nutzen. Ja, sogar viele Ältere sind inzwischen nahezu abhängig von sogenannten „Smartphones“, die ihnen die ganze Welt in die Handfläche legen.

Das Internet und soziale Netzwerke sind fester Bestandteil unseres Lebens geworden – leider oft auch für sehr junge Kinder. Eltern selbst ermöglichen diesen Zugang, indem sie Geräte bereitstellen und falsche Altersangaben machen. So begehen sie unbewusst den ersten grossen Verrat an ihren Kindern.

Getrieben vom Wunsch nach Sichtbarkeit veröffentlichen wir heute fast jeden Moment unseres Lebens online. Früher war Privatsphäre heilig, heute überbieten wir uns gegenseitig mit persönlichen Einblicken. Statt unsere Gaben selbst zu geniessen, leben wir zunehmend für die Reaktionen der anderen – und verlieren dabei den wahren Wert des Moments aus den Augen.

Auch wir Muslime teilen inzwischen selbst unsere heiligsten gottesdienstlichen Handlungen online. Statt intime Momente mit Allah zu wahren, geben wir ihnen oft dem Drang zur öffentlichen Zurschaustellung preis. Die Grenze zwischen Aufrichtigkeit und Schaustellung, zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, verschwimmt zunehmend – selbst im spirituell Tiefsten.

Auf der anderen Seite – so sehr wir glauben, dass das Internet und insbesondere die sozialen Netzwerke uns den fernen Menschen näherbringen, so sehr müssen wir uns auch der Gefahr bewusstwerden, dass sie uns im gleichen Mass von den nahestehenden Menschen und von unserem wirklichen Leben entfremden.

Heute dringen Sünde, Unmoral und Gewalt durch Online-Spiele, Glücksspiel und ähnliche Inhalte direkt in unser Leben – besonders bei der Jugend. Anders als früher müssen Menschen der Versuchung nicht mehr entgegengehen, sie kommt nun von selbst zu ihnen: in die Hand, ins Zimmer, ins Herz der Familie.

Technologie und das Internet mit seinen sozialen Netzwerken scheinen uns auf hinterlistige Weise einige der wertvollsten Güter unseres Lebens zu rauben:

1.     Unser Bewusstsein – mitten in einem endlosen Meer an Informationen. Dies führt unter anderem zu Indoktrination und, vorsichtiger formuliert, zu kognitiver Verwirrung oder Orientierungslosigkeit. Das eigentliche Problem unserer Zeit ist nicht der Mangel an Informationen, sondern ihre Überfülle – gepaart mit dem fehlenden Unterscheidungsvermögen vieler Menschen, Information von Wissen zu trennen und wahre Nachrichten von falschen, verlässlichen Inhalten von zweifelhaften zu unterscheiden.

2.     Unsere psychische Gesundheit – indem wir unter anderem nicht (mehr) die Fähigkeit entwickeln, das zu erlernen, was man als Ambiguitätstoleranz bezeichnet: die innere Stärke, geistige und emotionale Ruhe zu bewahren, wenn wir mit widersprüchlichen Situationen oder gegensätzlichen Inhalten konfrontiert werden. Zum Beispiel: Beim Scrollen durch Facebook stösst man erst auf einen erfreulichen, humorvollen Beitrag eines Freundes, direkt gefolgt von einem drastischen Bericht über Gewalt an Kindern, Frauen oder Tieren. Diese emotionale Achterbahnfahrt ermüdet die Seele. Mit der Zeit kann sie zur Abstumpfung führen – bis dahin, dass man weder Freude noch Trauer wirklich spürt. Dies begünstigt die Entstehung eines gleichgültigen Menschentyps, der unempfindlich gegenüber dem wird, was um ihn herum geschieht.

3.     Unsere Moral – inmitten unzähliger schamloser, entwürdigender und wertloser Inhalte, die ungefiltert veröffentlicht und verbreitet werden.

4.     Die Ethik unserer Kommunikation – raue Sprache, fehlender gegenseitiger Respekt, Verleumdungen, Beleidigungen und Beschimpfungen scheinen sich zu einem festen Bestandteil der Internet- und Social-Media-Kommunikation entwickelt zu haben. Solches Verhalten widerspricht nicht nur jeder islamischen Moralvorstellung, sondern auch den Grundprinzipien jeglicher menschlichen Kommunikationsethik.

Mit all dem, was ich bisher gesagt habe, möchte ich keinesfalls den Eindruck erwecken, dass ich grundsätzlich gegen den Gebrauch von Technologie bin – in diesem Fall gegen das Internet oder soziale Netzwerke. Das kann und will ich im Prinzip gar nicht sein. Im Gegenteil: Auch ich selbst nutze diese Mittel in durchaus erheblichem Masse. Was ich jedoch an dieser Stelle besonders betonen möchte, ist die Notwendigkeit, achtsam zu sein – damit wir nicht selbst zu Produkten oder gar zu Gefangenen dieser Technologie werden; nicht zu Menschen, die vom Internet und von den sozialen Medien kontrolliert und gesteuert werden. Vielmehr sollten wir selbst die Kontrolle darüber behalten und diese Werkzeuge in den Dienst unserer eigenen Entwicklung und des Wohles der Menschheit stellen. Wir müssen wachsam sein, damit unsere fortschrittliche Technologie keine herzlosen Kreaturen aus uns macht – keine gefühllosen Frankensteins unserer Zeit.

Worauf ich im weiteren Verlauf dieses Artikels etwas detaillierter eingehen möchte, ist die Sprache bzw. der Kommunikationsstil, den wir im Internet und in den sozialen Medien pflegen. Für uns Muslime – in jeder Hinsicht, aber gerade auch in dieser – liegt die verlässlichste und wegweisendste Orientierung im edlen Qur’an, im Leben des Propheten Muhammed s.a.w.s., sowie in den schönen und vorbildhaften Beispielen der Gelehrten und gottesfürchtigen Musliminnen und Muslime vergangener Zeiten.

In diesem Zusammenhang – wenn es um unsere Art der Kommunikation geht, sei es im realen Leben oder heute insbesondere im virtuellen Raum – sollte für uns Muslime die Aussage des Propheten Muhammed s.a.w.s. wegweisend sein, wenn er sagt: „Wer an Allah und den Jüngsten Tag glaubt, der soll Gutes sprechen oder schweigen!“ (Bukhari und Muslim)

Diese Aussage macht uns die grosse Verantwortung bewusst, die mit dem gesprochenen – und heute mehr denn je auch mit dem geschriebenen – Wort einhergeht. Sie erinnert uns daran, dass unser Reden, unser Kommunikationsstil und unsere Ausdrucksweise stets unter der Beobachtung Allahs stehen. Und dass wir am Tag des Gerichts für jedes Wort, das wir geäussert haben, zur Rechenschaft gezogen werden.

In diesem Sinne sagt der Prophet Muhammed s.a.w.s. ebenfalls: „Ein (wahrer) Muslim ist derjenige, vor dessen Zunge und Hand die (anderen) Muslime in Sicherheit sind.“ (Bukhari, Muslim und Nasa’i)

Es kann und darf nicht anders sein – denn schon das Wort „Islam“ bedeutet Hingabe an Allah und ein Leben in Frieden mit allem und jedem. Und das Wort „Muslim“ bezeichnet den Menschen – ob Mann oder Frau –, der sich Allah vollständig unterordnet, sodass von ihm nur Frieden, Ruhe, Freundlichkeit, Liebe und Respekt ausgehen.

In unserem Kontext bedeutet der genannte Hadith also: Ein wahrer Muslim ist derjenige, der sich auch in den sozialen Netzwerken menschlich, muslimisch und im Geiste des Qur’ans ausdrückt und kommuniziert. Einer, der mit seiner Hand – oder vielmehr: mit seinen Fingern auf der Tastatur – niemanden verletzt, niemanden kränkt, niemanden herabwürdigt.Kurz gesagt: Vom Muslim und von der Muslimin – sowohl in der realen als auch in der virtuellen Welt – geht nur Liebe, Respekt, Ehre, Wertschätzung und Freude aus.

Hier sollte jeder von uns innehalten und sich selbst auf der Waage dieser edlen Aussage des Propheten Muhammed s.a.w.s. messen – jedes Mal, wenn er sich ins Internet oder in soziale Netzwerke einloggt. Man stelle sich bewusst die Frage: Werde ich auf Facebook, im Chat oder in anderen Plattformen Liebe, Respekt, Harmonie, Frieden und innere Ruhe verbreiten – oder das genaue Gegenteil davon? Mit anderen Worten: Auch hier – wie vor dem Gebet, dem Fasten oder jedem anderen Akt der Ibadah (Gottesdienst) – sollten wir eine bewusste Absicht (niyyah) fassen.

Ein beeindruckender Beleg dazu ist die Überlieferung von Aswad b. Asram al-Muharibi r.a., der berichtet: „Eines Tages sagte ich zum Gesandten Allahs s.a.w.s.: ‚O Gesandter Allahs, rate mir und lehre mich etwas!‘ Er fragte: ‚Kannst du deine Zunge beherrschen?‘ Ich antwortete: ‚Was soll ich sonst beherrschen, wenn nicht meine Zunge?‘ Dann fragte er: ‚Kannst du deine Hand kontrollieren?‘ Ich sagte: ‚Was soll ich sonst kontrollieren, wenn nicht meine Hand?‘ Da sagte er: „Dann sprich mit deiner Zunge nur Gutes, und strecke deine Hand nur nach dem aus, was gut und nützlich ist!‘“(Tabarani)

Noch einmal: Wie sehr beherrschen wir heute unsere „Zunge“ und unsere „Hand“ – sprich: unsere Tastatur – wenn wir im Internet schreiben, posten oder kommentieren?

 

Einige Grundsätze der Kommunikation (des Sprechens und Schreibens) im Internet

1.     Ein grundlegendes Prinzip bei der Kommunikation soll Güte, Liebe und Barmherzigkeit sein – und nicht Bosheit, Hass oder Überheblichkeit.

2.     Kommunikation soll dem Zweck dienen, einen Nutzen zu bringen oder einen Schaden abzuwenden – selbst bei einfachen Gesprächen soll darauf geachtet werden, dass ein sinnvoller Nutzen erzielt wird.

3.     Man soll in einem sanften und verständlichen Ton sprechen. Der edle Qur’an überliefert dazu den Rat Luqmans a.s. an seinen Sohn: „Halte das rechte Mass in deinem Gang und dämpfe deine Stimme, denn die widerwärtigste der Stimmen ist wahrlich die Stimme der Esel." (Luqman, 31:19)

4.     Zuerst soll man gut zuhören, verstehen worum es geht – und erst dann, wenn es nötig ist, in dem Mass sprechen, wie es gebraucht wird. Tatsächlich ist es eine Kunst, zuhören zu können. Wer nicht zuhört, sondern ständig redet, lernt nichts Neues – er wiederholt immer wieder dieselben Worte oder Gedanken wie ein Refrain. Zum Thema Sprechkultur und Gesprächsdisziplin gibt es mehrere weise Sprichwörter:

-       „Gott hat dir zwei Ohren und eine Zunge gegeben, damit du doppelt so viel zuhörst, wie du sprichst.“

-       „Wenn das Reden Silber ist, dann ist das Schweigen Gold.“

-       „Vollkommene Menschen haben ihren Rang durch das Schweigen erreicht.“

5.     Ohne sich zu sehr in Personen oder einzelne Ereignisse zu verlieren, sollte man sich bemühen, das Kernthema zu verstehen – insbesondere den Zusammenhang von Ursache und Wirkung.

Ein chinesisches Sprichwort bringt die Bedeutung eines gehobenen Gesprächsniveaus treffend auf den Punkt:

„Grosse Geister sprechen über Ideen, durchschnittliche Geister über Geschehnisse, kleine Geister über Personen.“

Über Personen zu sprechen kann leicht in Klatsch und Tratsch ausarten, während das blosse Nacherzählen von Ereignissen dazu führen kann, dass man den Gesamtzusammenhang und das eigentliche Thema aus dem Blick verliert.

6.     Wir sollten die moralischen Prinzipien der Sura (Kapitel) al-Hudschurat (49) des Qur’ans im Blick behalten – einer Sure, die für mich persönlich (neben vielen anderen) ein regelrechtes ethisches Manifest für das gesellschaftliche Leben darstellt, insbesondere aber für unsere reale und virtuelle Kommunikation:

·       Menschen mit Würde und Rang sollen wir nicht in derselben vertraulichen Form ansprechen wie enge Freunde oder Bekannte, sondern mit tiefem Respekt;

·       Wir sollen keine verletzenden Spitznamen oder herabwürdigenden Bezeichnungen für andere verwenden;

·       Wir sollen uns nicht über andere lustig machen und sie nicht herabsetzen;

·       Wir dürfen andere nicht durch Worte oder Verhalten verletzen;

·       Wir sollen nicht nach den Fehlern anderer schnüffeln oder sie ausspionieren;

·       Wir sollen nicht aus Verdacht oder unbegründeten Vermutungen sprechen;

·       Wir sollen keine unbestätigten Nachrichten weiterverbreiten, keine Falschmeldungen, um dadurch anderen – und letztlich auch uns selbst – Unrecht zuzufügen.

Allah – erhaben ist Er – hat jenen die frohe Botschaft gegeben, die zuhören können und im Gespräch die besten und schönsten Worte verwenden: So verkünde frohe Botschaft Meinen Dienern, die auf das Wort hören und dann dem Besten davon folgen. (az-Zumar, 39:17–18)

Vergessen wir in diesem Zusammenhang nicht die Mahnung des Propheten Muhammed s.a.w.s., wenn er sagt: „Zu dem, was die Menschen von den früheren Prophetenworten überliefert bekommen haben, gehört: Wenn du dich nicht schämst, dann tu, was du willst! (Bukhari)

Um nicht zu Gefangenen der Herrschaft des visuellen Eindrucks zu werden und nicht zum Produkt anderer gemacht zu werden, brauchen wir heute die Wiederbelebung des Schamgefühls.

Wir brauchen heute einen Aufstand, eine Revolution, die die Scham wieder an die Spitze der moralischen Werte stellt – jener Werte, die uns alle Gesandten Gottes überliefert haben.

Islamische Gelehrte unterteilen das Schamgefühl (haya’) in vier Kategorien:

·       Scham gegenüber Allah

·       Scham gegenüber den Mitmenschen

·       Scham gegenüber den Engeln

·       Scham gegenüber sich selbst

Tatsächlich müsste gerade diese letzte Form des Schamgefühls an erster Stelle stehen. Denn wenn ein Mensch sich vor sich selbst schämt, zeigt das, dass er in seinem Herzen und in seiner Seele Ehre, Würde und innere Noblesse trägt.

Abdullah ibn Mes’ud r.a. überliefert vom Propheten Muhammed s.a.w.s., dass dieser eines Tages zu den Anwesenden sagte: „Schämt euch vor Allah, so wie es Ihm gebührt!“ Wir sagten: „Alhamdulillah, wir empfinden Scham vor Ihm.“ Da sagte er: „Ich meine nicht (nur) das, sondern den Scham, wie Allah ihn wirklich verdient: Bewahre deinen Kopf und alles, was er umfasst; Bewahre deinen Bauch und was er in sich trägt; Erinnere dich an den Tod und an das, was danach kommt. Wer das Jenseits (also das Paradies) ersehnt, der meidet den Zierrat dieser Welt. Wer so handelt, der schämt sich vor Allah – so, wie es Ihm gebührt. (Tirmidhi)

Ein wenig Kommunikationsethik, ein wenig Schamgefühl – gegenüber sich selbst, gegenüber Allah, gegenüber den Engeln und gegenüber anderen Menschen, selbst im Internet und in den sozialen Netzwerken – würde uns allen nur guttun. Und wir werden sehen, welch ein Wunder, welch eine „Magie“ dieser einfache, aber tiefgreifende Wandel in unser aller Leben bringen kann.

Mögen Sie unter dem Schutz, der Barmherzigkeit und der vollkommenen Fürsorge Allahs bleiben!