Rehan Neziri

 

Der 3. Dezember ist als Internationaler Tag der Menschen mit Behinderungen bekannt. Aus diesem Anlass wollen wir uns in diesem Artikel mit diesem Thema aus der Perspektive der islamischen Lehren auseinandersetzen.

Laut internationalen Konventionen gelten als Menschen mit Behinderungen oder mit besonderen Fähigkeiten und Bedürfnissen jene, die aufgrund des Fehlens bestimmter körperlicher, sensorischer oder geistiger Fähigkeiten – sei es von Geburt an oder später im Leben erworben – nicht in der Lage sind, ihre alltäglichen Aufgaben selbstständig zu bewältigen, so wie es Menschen ohne diese Einschränkungen können. Sie sind daher auf unterschiedliche Formen der Unterstützung angewiesen und haben Bedürfnisse, sowie Fähigkeiten, die spezieller und vielfältiger sind als die der Allgemeinheit.

Aus den Lehren des Qur’ans verstehen wir, dass der Mensch im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Religion steht – er ist der Adressat und das eigentliche Ziel der Offenbarung. Der Qur’an beschreibt den Menschen als ein „in der schönsten und vollkommensten Form erschaffenes Wesen“, als ein „mit Würde geehrtes Geschöpf“, und als „khalifa – Stellvertreter Gottes auf Erden“, also als jemand, der Verantwortung für alles trägt, was sich auf der Erde befindet.

Diese und andere qur’anische Bezeichnungen sprechen deutlich für den hohen Rang und die edle Stellung, die der Mensch in den Augen Gottes einnimmt, in Seiner Gegenwart. Der Wert des Menschen vor Gott bemisst sich nach seinem Glauben, seinen gottesdienstlichen Handlungen, seinen guten Taten, seiner Gottesfurcht und seinem edlen moralischen Verhalten. Diese Eigenschaften sind massgeblich dafür, ob ein Mensch an Wert gewinnt oder verliert – nicht jedoch seine körperliche Beschaffenheit, Hautfarbe, Sprache, sein Geschlecht oder ob er körperlich gesund oder beeinträchtigt ist.Gerade deshalb sagte Muhammad (s.a.w.s.): „Allah schaut weder auf eure Körper noch auf eure äussere Gestalt, sondern Er schaut auf eure Herzen.“ (Muslim)

Aus dieser Perspektive betrachtet, sollte die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Menschen – sei es in Bezug auf Hautfarbe, Sprache, Gedankenwelt, Glaubensüberzeugung, Kultur, Geschlecht oder körperliche Verfassung, ob gesund oder beeinträchtigt – nicht als Mangel oder Defizit verstanden werden, sondern vielmehr als Reichtum und Bereicherung. Es darf keinesfalls ein Anlass zur Herabwürdigung oder zum Spott gegenüber dem Anderen sein, nur weil er sich von uns unterscheidet.

Gerade wenn es um Menschen mit besonderen Bedürfnissen oder körperlichen Einschränkungen geht, wird dieser Gedanke besonders eindrucksvoll in Familien deutlich, in denen ein oder mehrere solcher Menschen leben. Von den „gesunden“ Familienmitgliedern werden diese Angehörigen mit Beeinträchtigung niemals als minderwertig oder als unvollständig betrachtet. Im Gegenteil – ihre Präsenz im Haus wird als etwas vollkommen Normales, Selbstverständliches empfunden, ja sogar als etwas Besonderes, das den Alltag bereichert. Denn sie erfordern eine etwas intensivere und sensiblere Zuwendung, was nicht nur die physische Nähe, sondern vor allem auch die emotionale Bindung innerhalb der Familie stärkt.

Wie in jeder anderen Gesellschaft gab es auch zur Zeit des Propheten Muhammad (s.a.w.s.) Menschen mit besonderen Bedürfnissen. Als Barmherzigkeit für alle Welten gesandt, kümmerte sich Muhammad (s.a.w.s.) in besonderer Weise um diese Menschen und forderte auch andere dazu auf, es ihm gleichzutun. Er trat in direkten Kontakt mit ihnen, erkundigte sich einfühlsam nach ihren Bedürfnissen, half ihnen, diese zu erfüllen, erkannte ihre verborgenen Talente und Fähigkeiten, integrierte sie aktiv in die Gesellschaft und bezog sie sogar in öffentliche Aufgaben mit ein.

Vielleicht der einzige Moment, in dem der Prophet Muhammad (s.a.w.s.) einem Menschen mit besonderen Bedürfnissen nicht die angemessene Aufmerksamkeit schenkte – wobei dies keineswegs absichtlich oder aus Gleichgültigkeit geschah – war der Fall des blinden Mannes namens Abdullah ibn Umm Maktum. Während Muhammad (s.a.w.s.) in ein intensives Gespräch mit angesehenen Persönlichkeiten Mekkas vertieft war und bemüht war, sie für den Islam zu überzeugen, näherte sich ihm Abdullah, um Fragen über den Glauben zu stellen. Die Unterbrechung kam dem Propheten (s.a.w.s.) offenbar im Moment ungelegen, und so zeigte er sich kurzzeitig wenig aufgeschlossen – er wandte sich ab, ohne auf das Anliegen des Blinden einzugehen. Dieser scheinbar kleine Moment reichte jedoch aus, dass Allah (s.w.t.) direkt eingriff und dem Propheten (s.a.w.s.) durch eine klare, mahnende Offenbarung die Aufmerksamkeit auf den wahren Wert des Einzelnen lenkte – unabhängig von seinem gesellschaftlichen Status oder seiner körperlichen Verfassung. In diesen Versen des Qur’ans heisst es: Er blickte düster und kehrte sich ab, weil der Blinde zu ihm kam. Was lässt dich wissen, vielleicht läutert er sich oder bedenkt, so dass ihm die Ermahnung nützt. Was nun jemanden angeht, der sich für unbedürftig hält, so widmest du dich ihm, obgleich es dich nicht zu kümmern hat, dass er sich nicht läutern will. Was aber jemanden angeht, der zu dir geeilt kommt und dabei gottesfürchtig ist, von dem lässt du dich ablenken. Keineswegs! Gewiss, es ist eine Erinnerung. (Sura Abasa, 80:1–11)

Später, immer wenn der Prophet Muhammad (s.a.w.s.) Abdullah ibn Umm Maktum traf, begrüsste er ihn mit den Worten:„Friede sei mit dir, du, um dessentwillen mich mein Herr zurechtgewiesen hat!“ Als Zeichen des Respekts gegenüber einem Menschen mit besonderen Bedürfnissen breitete er sogar seinen eigenen Umhang aus, damit Abdullah sich darauf setzen konnte.

Die grösste und zugleich bedeutendste Form der Fürsorge, die der Prophet Muhammad (s.a.w.s.) Menschen mit besonderen Bedürfnissen entgegenbrachte, zeigte sich im Bereich ihrer aktiven Integration in die Gesellschaft. Wie bereits erwähnt, erkannte er ihre verborgenen Talente und Fähigkeiten und bezog sie – ihrer Begabung entsprechend – sogar in öffentliche, staatliche Aufgaben mit ein. Denn eine der edelsten und würdevollsten Arten, einem Menschen Freude und Sinn zu schenken, besteht vielleicht gerade darin, ihn mit einer Aufgabe zu betrauen, die er bewältigen kann und die seinem Herzen entspricht.

So entsandte der Prophet (s.a.w.s.) den bereits genannten blinden Abdullah ibn Umm Maktum noch vor der Hidschra (Auswanderung nach Medina im Jahr 622) in die Stadt Medina, um dort – auf Wunsch der Bewohner – den Qur’an zu lehren. Später ernannte er ihn sogar zum muezzin (Gebetsrufer) in seiner Moschee in Medina. Ganze 13-mal setzte er ihn als seinen Stellvertreter (Imam) ein, wenn er selbst wegen der Pilgerfahrt oder anderer Verpflichtungen abwesend war.Ebenso betraute er Mu’adh ibn Dschabal, der körperlich beeinträchtigt und gehbehindert war, mit einer äusserst verantwortungsvollen Aufgabe: Er ernannte ihn zum Statthalter (wali) im Jemen. All dies zeigt deutlich: Der Prophet (s.a.w.s.) sorgte dafür, dass Menschen mit Behinderungen nicht an den Rand gedrängt, sondern als gleichwertige Mitglieder der Gesellschaft wahrgenommen und behandelt wurden. Er liess nicht zu, dass sie bloss Empfänger von Hilfe waren – sondern erkannte in ihnen aktive Gestalter, produktive Persönlichkeiten, die fähig waren, mit ihren besonderen Stärken zur Entwicklung der Gemeinschaft beizutragen.

Als ein blinder Mann den Propheten Muhammad (s.a.w.s.) fragte, ob er verpflichtet sei, zum Gemeinschaftsgebet in die Moschee zu gehen, antwortete der Prophet (s.a.w.s.) zunächst, dass er auch zu Hause beten dürfe und nicht verpflichtet sei, das Haus zu verlassen. Doch nur einen Moment später fragte er ihn: „Hörst du den Gebetsruf (ezan)?“ Der Mann antwortete: „Ja, ich höre ihn.“ Daraufhin sagte der Prophet (s.a.w.s.): „Dann komm (zur Moschee).“ Diese kurze Begebenheit zeigt, wie sehr der Gesandte Gottes (s.a.w.s.) nicht nur das Gemeinschaftsgebet schätzte, sondern auch grossen Wert darauf legte, dass Menschen mit besonderen Bedürfnissen aktiv am sozialen und spirituellen Leben der Gemeinde teilnahmen. Für ihn war es undenkbar, solche Menschen zu isolieren oder ihnen das Gefühl zu geben, ausgeschlossen zu sein.

Ein weiteres bewegendes Beispiel berichtet von einem alten Mann, der durch sein fortschreitendes Alter und die zunehmende Erblindung nicht mehr in der Lage war, regelmässig zur Moschee zu kommen. Als er dies dem Propheten (s.a.w.s.) mitteilte, lud ihn dieser ein, ihn eines Tages in seiner eigenen Wohnung zu besuchen, damit sie gemeinsam beten könnten. Der Prophet (s.a.w.s.) nahm sich die Zeit, ging persönlich zu dem alten, blinden Mann nach Hause und verrichtete dort das Gebet – genau an der Stelle, an der es sich der alte Mann gewünscht hatte. (Bukhari)

In vielen seiner Hadithe hat Muhammad (s.a.w.s.) die Notwendigkeit betont, Menschen mit besonderen Bedürfnissen angemessen und einfühlsam zu unterstützen. Er machte deutlich, dass jede Form solcher Hilfe vor Gott als edle, menschliche Tat gewertet wird – ja, den Rang einer sadaqa, eines Gottesdienstes, erreicht. So sagte er: Wer einem Blinden den Weg zeigt, sich um jemanden kümmert, der taub oder stumm ist, einem körperlich Beeinträchtigten hilft, auf ein Reittier oder Transportmittel zu steigen, oder ihm beim Tragen seiner Lasten zur Seite steht – all das gilt als Sadaqa.Ein gegenteiliges Verhalten hingegen verurteilte der Gesandte (s.a.v.s.) aufs Schärfste. Er ging sogar so weit, jene zu verfluchen, die absichtlich einem Blinden den Weg verfälschen oder ihn in die Irre führen.

Einmal sagte der Prophet Muhammad (s.a.w.s.), dass ein Gläubiger jeden Tag eine sadaqa, eine wohltätige Gabe, geben sollte. Als seine Gefährten daraufhin äusserten, dass niemand über so viel Besitz verfüge, um täglich sadaqa zu geben, erklärte er ihnen, dass sadaqa viele Formen annehmen kann und nicht nur im Geben von Geld besteht. In diesem Zusammenhang sagte er: „Einen Blinden zu führen, einem Tauben oder Stummen etwas klar und verständlich zu erklären, jemandem bei der Erfüllung seiner Bedürfnisse zu helfen, sich für die Genesung eines Kranken einzusetzen, einem Schwachen beizustehen – all das ist sadaqa.“ (Ahmad)

Zugleich äusserte der Gesandte (s.a.w.s.) mit grosser Klarheit: „Das Entfernen von Hindernissen aus dem Weg ist sadaqa.“ Dieser Ausspruch gilt grundsätzlich für alle Menschen, richtet sich jedoch in besonderer Weise an den Umgang mit Menschen mit Beeinträchtigungen. Er macht deutlich, dass es unsere moralische Verpflichtung ist, diesen Menschen einen barrierefreien und würdevollen Zugang zu allen privaten wie öffentlichen Räumen zu ermöglichen – sei es in Schulen, Moscheen, staatlichen Einrichtungen oder anderswo.

Auch im Bereich der gottesdienstlichen Handlungen und religiösen Rituale haben sowohl der Qur’an als auch der Prophet Muhammad (s.a.w.s.) Erleichterungen vorgesehen und ausdrücklich dazu aufgerufen. Die zentrale Botschaft des Propheten (s.a.w.s.) in diesem Zusammenhang, die für alle Menschen gleichermassen gilt, lautet: „Erleichtert und erschwert nicht! Verkündet frohe Botschaften und schreckt nicht ab!“ (Bukhari und Muslim) Einmal kam ein Mann zum Propheten (s.a.w.s.) und beschwerte sich: „Wenn du nicht in der Moschee bist, übernimmt jener und jener das Gebet – aber er betet zu lange, wenn er Imam ist.“ Daraufhin bestieg der Prophet (s.a.w.s.) die Kanzel (minbar) und sagte zur Versammlung: „O ihr Menschen, einige von euch vergraulen andere von der Religion! Wer von euch das Gebet als Imam leitet, soll es kurz halten, denn unter den Betenden gibt es Schwache, Alte und Menschen mit Verpflichtungen!“(Bukhari und Muslim)

Als Imran ibn Husain krank war und nicht mehr im Stehen beten konnte, fragte er den Propheten (s.a.w.s.) um Rat. Der Prophet (s.a.w.s.) antwortete ihm: „Verrichte das Gebet im Stehen! Wenn du das nicht kannst, dann im Sitzen! Und wenn du auch das nicht kannst, dann liegend oder dich abstützend!“ (Bukhari, Abu Dawud, Tirmidhi, Ibn Madscha)

Diese Ratschläge und Anleitungen zeigen erneut die grosse Achtsamkeit und Fürsorge des Propheten (s.a.w.s.) gegenüber Menschen mit besonderen Bedürfnissen – insbesondere im sensiblen Bereich des Gottesdienstes.

Gleichzeitig verheisst Allah (s.w.t.) jenen, die mit Geduld durch ihre Einschränkungen gehen, gewaltige Belohnungen im Paradies. So berichtet der Prophet (s.a.w.s.) in einem Hadith Qudsi, dass Allah (s.w.t.) gesagt habe: „Wenn Ich einem Menschen die beiden Lieblinge – gemeint sind die Augen – nehme und er sich dennoch in Geduld übt, dann verspreche Ich ihm dafür das Paradies.“ (Bukhari)

 

 

Fazit

Der Mensch – als das edelste und würdevollste aller erschaffenen Wesen – besitzt bei Allah, dem Allmächtigen, einen hohen Rang. Diese Würde und dieser Wert gründen jedoch nicht auf seinem äusseren Erscheinungsbild, sondern auf seinen inneren, geistigen Qualitäten. Seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte – und dies darf als göttliche Weisheit verstanden werden – hat es Menschen mit Einschränkungen und besonderen Fähigkeiten und Bedürfnissen gegeben. Der Prophet Muhammad (s.a.w.s.) behandelte diese Menschen stets als gleichwertige Mitglieder der Gemeinschaft und forderte ihren respektvollen und würdevollen Umgang in allen Lebensbereichen. Dies geschieht, indem man ihre Begabungen, Fähigkeiten und Talente erkennt und ihnen die Möglichkeit gibt, sich in die Gesellschaft und das öffentliche Leben einzubringen – nicht als passive Empfänger von Hilfe, sondern als Menschen mit Würde, mit Integrität und mit echtem Nutzen für ihre Umgebung. Die notwendige Unterstützung sowie die infrastrukturellen Voraussetzungen für ihre Teilhabe sind eine gemeinsame Verpflichtung für uns alle. Dabei machen wir keinen Unterschied, ob die Hilfe einem Muslim oder einem Nichtmuslim gilt – denn für uns sind alle Menschen gleich wertvoll.

Zum Schluss sei noch ein Ausspruch des Propheten Muhammad (s.a.w.s.) angeführt, der diesen Geist zusammenfasst:„Der bei Allah beliebteste Mensch ist derjenige, der den grössten Nutzen für andere bringt. Und die bei Allah beliebteste Tat ist es, Freude und Glück in das Herz eines Mitmenschen zu pflanzen …“ (Tabarani)